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Paul Grossman "Kindersucher"

Willi Kraus ist Kriminalbeamter im Berlin der Weimarer Republik - eigentlich sogar einer der besten, doch als Jude muss er mit dem verbreiteten Antisemitismus und den daraus folgenden Nachteilen in seinem beruflichen Alltag leben. Als ein Sack mit Kinderknochen gefunden wird, ist er den Fall daher schneller wieder los, als es ihm lieb ist. Stattdessen soll er sich um verdorbene Wurstwaren kümmern, die den Speiseplan der Berliner einschränken. Doch Kraus kann von dem Fall der offensichtlich ermordeten Kinder nicht lassen und forscht heimlich weiter. Er entdeckt, dass sich hinter dem Fund ungeahnte Ausmaße verbergen: Seit Jahren verschwinden Straßenkinder spurlos. Es gehen Gerüchte um eine selbstsame Frau um, die immer ganz in Weiß gekleidet ist und als "die Hirtin" bezeichnet wird. Äußere Umstände zwingen Kraus' Vorgesetzte schließlich, ihm den Fall doch wieder zu übertragen. Seine Ermittlungen führen ihn schließlich auf die Spur einer Gruppe von zutiefst psychisch gestörten Tätern und eines skrupellosen Wissenschaftlers...

Ich entwickele in der letzten Zeit ein grundlegendes Interesse für historische Krimis, die in der Zeit vor und während des ersten Weltkriegs bzw. der Weimarer Republik spielen. Das vorliegende Buch ist in den Jahren 1929 und 1930 angesiedelt, es beginnt mit dem Börsencrash in New York, der die große Weltwirtschaftskrise ausgelöst hat. Der Autor verwendet neben dem eigentlichen Kriminalfall daher auch viel Zeit darauf, die gesellschaftlichen Veränderungen zu beschreiben. Die Hauptfigur Willi Kraus erlebt diese in doppelter Schärfe: nicht nur als deutscher Bürger, sondern durch seine Religionszugehörigkeit immer auch verschärft als Zielscheibe zunehmender Ablehnung und Feindseeligkeit. (Das geht sogar soweit, dass sich befreundete Nachbarn plötzlich völlig abwenden, um den neuen Zeitgeist und der aufkommenden politischen Macht zu entsprechen.) Über die historische Akkuratheit der Geschichte kann ich nicht urteilen, mir sind keine großen Unreimtheiten aufgefallen, was aber nicht heißen muss, dass es diese nicht doch gibt. Für mich war es ein sehr spannendes und unterhaltsames Lesevergnügen, der Autor erzählt stellenweise rasant, immer fesselnd und baut einen logisch durchdachten Kriminalfall auf. Mir ist es häufig abends schwer gefallen, das Buch aus der Hand zu legen und nicht doch noch eben ein weiteres Kapitel zu lesen, um zu erfahren, wie es weitergeht. Ich bin sehr gespannt auf die beiden weiteren Bücher aus der Reihe.

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Horch und Guck: